Der Ex-Vize-Verteidigungsminister vor dem Haftrichter
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Timur Iwanow als Angeklagter

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"Säuberungen in vollem Gange": Putins Elite in Angst?

Nach der Festnahme des russischen Vize-Verteidigungsministers Timur Iwanow und angeblicher Geldgeber wegen Korruption und "Hochverrats" sind Gesellschaft und Medien in Aufruhr. Derweil verspricht das Regime: "Die Schrauben werden nicht angezogen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Jetzt werden alte Fotos zum Beweismaterial, was vielen Moskauer Spitzenfunktionären den Angstschweiß auf die Stirn treiben dürfte: Der russische Ex-Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow sitzt für zunächst zwei Monate in Untersuchungshaft, offiziell wegen "Korruption" in großem Stil, inoffiziell wegen "Hochverrats", wie russische Medien erfahren haben wollen. Es erfolgten bereits weitere Festnahmen, etwa vom angeblichen Geldgeber und Baulöwen Alexander Fomin, von Iwanows ehemaliger Mitarbeiterin Swetlana Strigunkowa und von dessen mutmaßlichem Helfershelfer Sergej Borodin.

"Die letzten oder die ersten Verhaftungen?"

"Die Säuberungen sind im vollen Gang", urteilen Blogger und freuen sich bereits auf weitere Festnahmen im Apparat. Im liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant" heißt es: "Sie suchen nach Komplizen". Noch seien nicht alle Beteiligten identifiziert. Unfreiwillig komisch der Kommentar eines hochrangigen Gesprächspartners der Kolumnistin Ekaterina Winokurowa: "Die große Frage ist, ob diese Verhaftungen die letzten oder nur die ersten sein werden, wenn man bedenkt, dass wir noch zwei Wochen bis zur Amtseinführung [von Putin] haben."

Dort ist schon vom Stühlerücken wie bei einer "Reise nach Jerusalem" die Rede: "In den letzten Wochen wurde allgemein angenommen, dass die personellen Änderungen bestenfalls kosmetischer oder sogar nur technischer Natur sein würden, aber die jüngsten Ereignisse haben viele frühere Vereinbarungen erledigt."

Machtkampf zwischen Geheimdienst und Militärs?

Einer der meist gelesenen Blogger äußerte die schon häufiger zu lesende Vermutung, hinter den "Säuberungen" verberge sich ein massiver Konflikt zwischen Geheimdienst und Militär, der seit Beginn des Angriffskriegs schwele [externer Link]: "Erstens mussten die Agenten Beweise für die Schuld des Verteidigungsministeriums am Scheitern der Sonderoperation sammeln und so die Wut des Präsidenten von ihren Kollegen ablenken, zweitens verstehen die Chefs der Sonderdienste sehr gut, dass jeder (und ganz besonders jeder erfolgreiche) Krieg den Einfluss und die apparative Macht der Führung des Verteidigungsministeriums und jedes einzelnen Armeegenerals stärkt. Das ist für den [Inlandsgeheimdienst] FSB absolut inakzeptabel. Das ist sein Land, seine Machtbasis, sein Regime. Der FSB ist möglicherweise nicht einmal an einem erfolgreichen Abschluss des Spezialoperation interessiert."

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan sah Anzeichen für "Panik in der Führung" des Verteidigungsministeriums, schloss jedoch gleichzeitig Auswirkungen auf das Geschehen an der Front aus, da hauptsächlich zivile Mitarbeiter betroffen seien. Grigori Mischanow von der in Amsterdam erscheinenden "Moscow Times" bezweifelte wie viele andere, dass es um die vorgeschobene Korruption geht, die letztlich alle russischen Politiker betreffe. Es müsse vielmehr etwas "Ernsthaftes" vorgefallen sein, das zu gravierend sei, um es zu vertuschen, möglicherweise "persönliches" Versagen: "Die Spinnen im Glas werden einen Grund finden, sich gegenseitig zu fressen, insbesondere wenn der oberste Schiedsrichter seine Funktion als solcher verliert."

Exotische Safaris und bizarre Nostalgie-Feste

Blogger posten fleißig Bilder des geselligen und spendierfreudigen Iwanow mit derzeitigen Kreml-Funktionären, wie Putins Sprecher Dmitri Peskow, was nahelegen soll, dass die "Säuberungen" noch lange nicht beendet sind. Inwieweit Putin persönlich daran beteiligt ist, darüber streiten sich die Experten. Manche vermuten, er habe bereits nach der aufsehenerregenden Rebellion des verstorbenen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin beschlossen, im Verteidigungsministerium gründlich aufzuräumen, jedoch abgewartet, um nicht als Getriebener dazustehen. Andere, wie der prominente Kolumnist Dmitri Drise, warnen vor voreiligen Schlüssen: "Es ist davon auszugehen, dass nicht jeder den wesentlichen Kern der Ereignisse versteht."

Ständig werden neue, teils höchst unterhaltsame Einzelheiten über das Schickeria-Leben von Iwanow und seiner Familie veröffentlicht, etwa "exotische Safaris", Geburtstagspartys an der südfranzösischen Côte d’Azur und bizarre Nostalgie-Feste, etwa eine "Wiederaufführung" des legendären, nach heutigen Maßstäben 120.000 Dollar teuren Schwarz-Weiß-Balls, den der US-Starautor Truman Capote am 28. November 1966, auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs, zu Ehren und zur "Aufmunterung" von Katherine Graham, der einflussreichen Herausgeberin der "Washington Post" gab. Die "Messlatte" lag somit hoch: Damals wurden von den Gästen, darunter etliche Superstars wie Gloria Vanderbilt und Andy Warhol, 450 Flaschen Champagner konsumiert [externer Link].

"Schwierigkeiten beginnen erst danach"

In Moskau soll Iwanow in einer historischen Villa gewohnt haben, die Schauplatz des berühmten Romans "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow ist, einer Stalin-Satire. Vermutlich sei Iwanow "heimlich" in das Kulturdenkmal eingezogen, spottete einer der Blogger (550.000 Fans): "Daher wurden alle Restaurierungs- und Sanierungsarbeiten natürlich mit der Abteilung für Kulturerbe abgesprochen, und die Geschichte schweigt darüber, wer dafür bezahlt hat." Überhaupt wird viel an das Jahr 1937 erinnert, als die "Säuberungen" auf einem blutigen Höhepunkt waren, sich buchstäblich niemand sicher fühlen durfte und selbst Geheimdienstchefs wegen "Verschwörungen" umstandslos erschossen wurden.

Inzwischen wurde eine "groß angelegte" Prüfung aller Bauprojekte des russischen Militärs angekündigt. Die vermeintliche Bestechungsaffäre droht das gesamte Regime zu destabilisieren, wie Eil-Politologe Abbas Galljamow beobachtete [externer Link]. Er verwies darauf, dass es die staatlich gesteuerten TV-Kanäle vorzogen, den Skandal weitgehend zu verschweigen: "Ich habe bereits im Jahr 2022 gesagt, dass Putins Position deshalb so stabil ist, weil er weiß, dass es natürlich möglich ist, Leute zu feuern, die Schwierigkeiten danach aber erst richtig beginnen."

"Niemand hätte ihn wegen Korruption festgenommen"

So werde der von manchen erwartete baldige Sturz auch von Verteidigungsminister Schoigu wie die "hysterische Suche nach einer neuen Strategie" aussehen und ein möglicher Nachfolger werde mindestens ein Jahr benötigen, bevor er Ergebnisse vorweisen könne. Die Leute würden sich fragen, warum Putin 25 Jahre mit Schoigu und seiner Truppe zusammengearbeitet habe, um jetzt festzustellen, dass sie "böse" seien: "Und sie erzählen uns trotzdem, dass alles nach Plan läuft? Das ist die Wahrnehmung, die sich durchsetzen wird."

Derweil geraten immer mehr Kreml-Funktionäre in die Schlagzeilen, sogar der Leiter der Antikorruptionsabteilung im russischen Innenministerium. Weiterungen sind also wahrscheinlich. Das Exil-Portal "Important Stories" schrieb unter Berufung auf Insider [externer Link], der Inlandsgeheimdienst habe bereits seit fünf Jahren gegen den verhafteten Timur Iwanow ermittelt: "Niemand hätte ihn wegen Korruption festgenommen. Jeder dort [im Kreml] wusste schon lange davon. Putin gab den Befehl erst, nachdem es uns gelungen war, ihn davon zu überzeugen, dass es sich tatsächlich um Hochverrat handelte." Auch das erinnert sehr an die Gepflogenheiten unter Stalin, der überall Verrat witterte.

"Rückkehr zum totalitären Staat unmöglich"

Offenbar zur Beruhigung der aufgebrachten Gesellschaft und der nervösen Kreml-Elite sagte Valentina Matwijenko, die Chefin des russischen Föderationsrats und damit Inhaberin des dritthöchsten Staatsamts in einem Interview: "Eine Rückkehr zu einem totalitären Staat ist unmöglich, inakzeptabel. Wir haben bereits historische Erfahrungen gemacht und wissen, wie langwierig und schwierig es war, die Folgen zu beseitigen. Einen zweiten totalitären Staat kann es in Ländern, in denen das so ist, niemals geben." Es werde kein "Anziehen der Schrauben" geben.

Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" verblüffte Politologe Maxim Samorukow mit der scheinbar paradoxen Ansicht, einerseits sei Putins Macht "stärker als jemals zuvor", andererseits stehe sein Regime ständig "am Rande des Zusammenbruchs" [externer Link]. Die Begründung des Experten: "Der Kreml trifft Entscheidungen heute mehr denn je auf personalisierte und willkürliche Weise, ohne dass es auch nur grundlegende Qualitätskontrollen gibt. Getrieben von Putins Launen und Wahnvorstellungen läuft Moskau Gefahr, selbstzerstörerische Fehler zu begehen."

"Tradition gewahrt"

In den Kommentarspalten russischer Zeitungen wird gespottet, bei diesem Tempo von Festnahmen würden Russland bald seine Millionäre ausgehen. Über Iwanow hieß es: "Warum wurde er entlassen? Er hat nichts Schlechtes gesagt, sondern die Tradition gewahrt." Mit unausgesprochenem Hinweis darauf, dass Iwanow Zivilist ist, war zu lesen: "Tatsächlich ist es in der Armee üblich, den unmittelbaren Vorgesetzten für schwere Vergehen eines Untergebenen zur Rechenschaft zu ziehen. Die 'Generäle', die keine Militärakademien besucht haben, können das aber nicht wissen."

Auch über Formalien amüsierten sich manche: "Wie kann Verteidigungsminister Schoigu seinen Stellvertreter entlassen, wenn ihn Putin ernannt hat?" Manche wittern bereits einen "Showdown": "Gefährdet sind nicht mehr nur Einzelgänger oder unbedeutende Vertreter der Clans, sondern deren zentrale Figuren. Die Widersprüche innerhalb der Machtvertikale nehmen zu und werden zunehmend mit Gewalt gelöst."

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